In einer „Nachbemerkung des Autors“ schreibt Werfel in der Erstausgabe zu seinem Roman: „Dieses Werk wurde im März des Jahres 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen.
Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen.“
Nach dem Ersten Weltkrieg kehrten sie in ihre Dörfer zurück, als Syrien französisches Mandatsgebiet war. Doch 1938 überließen die Franzosen das Gebiet um Antiochien (heute Antakya) und Alexandrette (heute Iskenderun) der Türkei. Die meisten Armenier verließen damals ihre Dörfer auf dem Musadagh. Ihre Nachkommen siedeln heute meist in Anjar, einem Dorf an der Strecke zwischen Beirut und Damaskus, andere leben in Eriwan und in anderen Teilen der Welt.
Tekepinar ist heute ein beliebter Ausflugsort für die Großstädter von Antakya, dem alten Antiochien, wo nach der Apostelgeschichte die Jünger Jesu erstmals „Christen“ genannt wurden. Es liegt wie die von Werfel beschriebenen Dörfer malerisch am Hang des Musadagh. Auf dem Dorfplatz kommen Schüler der naheliegenden Schule und fragen, ob man zur Kirche wolle. Es geht einen Fußweg steil bergauf, dann liegt auf einem kleinen Plateau die zerstörte Kirche vor uns.
Bei unserem Besuch im Jahre 2002 war sie noch von Gestrüpp umwuchert, 2004 war der Platz gesäubert, der Schutt weggeschafft und sogar eine kleine Holzbude errichtet, in der wohl bald die Eintrittskarten verkauft werden, wenn die Ruine von mehr Touristen besucht wird.
Die schmale Straße führt am Hang weiter. Es geht über kühne kleine Brücken und subtropische Landschaften vorbei an Ruinen armenischer Kirchen. Nur in Vakifliköyü ist noch armenische Gegenwart erhalten. Eine Bewohnerin im Nachbarhaus der Kirche spricht deutsch. Sie ist auf Urlaub hier, denn seit mehr als dreißig Jahren arbeitet sie in Deutschland.
Sie ist Armenierin, in Augsburg aber wegen ihres Passes eine türkische Gastarbeiterin. So geht es Tausenden Armeniern aus der Türkei. Immerhin werden sie heute in Deutschland von einem armenischen Bischof in Köln und einigen Priestern betreut.
1997 ist Werfels Roman auch in der Türkei in türkischer Übersetzung erschienen. „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ist kein antitürkisches Buch, denn Werfel lässt in diesem Werk auch Nezimi Bey sprechen: „An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehen“, und er lässt ihn den deutschen Pastor Dr. Johannes Lepsius fragen: „Wissen Sie, dass die wahren Türken die armenischen Verschickungen noch heftiger verwerfen als Sie?“
Vor wenigen Jahrzehnten lebten unsere Völker treu unter der Fahne des Propheten: Türken, Araber, Kurden, Lasen und andere mehr. Der Geist des Korans glich die irdischen Unterschiede des Blutes aus.“ Der alte Scheich erklärt Lepsius: „Der Nationalismus füllt die brennend leere Stelle, die Allah im menschlichen Herzen zurücklässt, wenn er daraus vertrieben wird.“
Werfel lässt ferner einen türkischen Hauptmann, der Mitglied des Ordens ist, berichten, dass er mehr als tausend armenische Waisenkinder in türkischen und arabischen Familien unterbrachte. Schließlich bringen Derwische sogar etwas Hilfe für die belagerten Christen auf den Musadagh.
Heute leugnet die türkische Regierung immer noch die Verantwortung, ja die Tatsache dieses Völkermordes. Dass muss eigentlich verwundern, denn wenig bekannt ist bis heute, dass es 1919 bis 1921 auf Druck der alliierten Mächte in Istanbul Kriegsverbrecherprozesse gegen türkische Politiker gab, um den Völkermord an den Armeniern zu untersuchen und die Verantwortlichen zu bestrafen.
Die Hauptangeklagten Enver Pascha, Cemal Pascha und Talaat Pascha konnten fliehen und sich in Berlin frei bewegen wie heute die Kriegsverbrecher Karadzic und Mladic in Jugoslawien. Zwar wurden in Istanbul Urteile gefällt und gegen Einzelne sogar Todesurteile vollstreckt, aber die alliierten Pläne zur Aufteilung Anatoliens und die griechische Besetzung Izmirs 1919 mit den schrecklichen Übergriffen gegen türkische Zivilisten riefen den türkischen Widerstand gegen die „Siegerjustiz“ hervor.
Die „nationale Souveränität“ der Türkei siegte danach über die Zustimmung zu diesem Prozess, als die griechische Landung in Izmir mit den Massaker an der türkischen Zivilbevölkerung nicht geahndet wurde.
Hatten zunächst sowohl die osmanische Regierung in Istanbul als auch die Nationalbewegung in Anatolien Bereitschaft gezeigt, die Verantwortlichen des Völkermordes zu bestrafen, so verschwand nach den Morden in Izmir diese Bereitschaft sehr bald. „Das Recht hat jetzt die Seite gewechselt“, sagte sogar Winston Churchill schon nach der Landung der Griechen in Izmir, „Die Gerechtigkeit, dieses ewige Flüchtige aus den Räten der Eroberer, ist in das gegnerische Lager übergelaufen.“
Im Jahre 1921, zwei Jahre bevor Hitler in München durch den Marsch zur Feldherrnhalle erstmals zur Macht kommen wollte, sprach ganz Berlin von den Armeniern. Denn einer der Hauptverantwortlichen für die Armeniervernichtung, Talaat Pascha, wurde am 15. März 1921 in Berlin von einem jungen Armenier erschossen, der alle seine Familienangehörige im Jahre 1915 verloren hatte und selber wie durch ein Wunder unter Leichen liegend das damalige Massaker überlebte.
Talaat Pascha war wie seine Mittäter Enver Pascha und Cemal Pascha nach dem verlorenen Krieg nach Berlin geflohen, weil ihm in Istanbul die Todesstrafe drohte, in Abwesenheit gegen ihn wie seine Kollegen verhängt wurde.
Als der Armenier, der ihn tötete, am 2. und 3. Juni 1921 in Berlin vor Gericht stand, kam die Schuld Talaat Paschas an der Vernichtung der Armenier zur Sprache. Als Sachverständiger war auch Dr. Johannes Lepsius vorgeladen, als Zeugen verschiedene Überlebende der Massaker. Die Anklage verzichtete angesichts der erdrückenden Beweise für die Urheberschaft Talaat Paschas auf eine Reihe weiterer Zeugen, darunter auch auf A. T. Wegener, der dann nach dem Freispruch des Armeniers das stenografische Protokoll des Prozesses veröffentlichte.
Als 1933 Werfels Roman erschien, lenkte er sofort den ganzen Hass der Nazi-Machthaber auf sich. Er wurde von den Nazis aus der Preußischen Dichterakademie ausgeschlossen, sein Roman verfemt.
Dabei entspricht Werfels Darstellung den Ereignissen des Jahres 1915, lediglich die Gestalt des Helden Gabriel Bagradian entspringt der Idee des Autors. Werfel wollte mit Bagradian „einen Helden schildern, wie er ihn sich vorstelle … den türkischen Nationalismus beleuchten und die Geschichte der armenischen Gräuel berichten.“
1966 konnte ich in Anjar und Jerusalem noch mit Überlebenden sprechen, die als Kinder und Jugendliche 1915 auf dem Musadagh waren oder als junge Erwachsene Werfel 1929 in Damaskus trafen. Heute ist dies alles Geschichte. Aber Werfels Roman lebt als ein Buch der Weltliteratur.
Rudolf Grulich
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