Polizei und Militär sprangen diesen „Unberührbaren“ nicht bei. Schon bei Angriffen vorher waren sie weitgehend tatenlos geblieben. Juristisch geahndet wurden nur Einzelfälle.
Zehn Jahre nach den Ausschreitungen leben die Christen im Osten Indiens noch immer in Lebensgefahr. Die Übergriffe nehmen sogar zu – vor allem, seitdem die hindu-nationalistische Partei BJP die politische Mehrheit im indischen Parlament erringen konnte und mit Narendra Modi den Premierminister stellt. Strikte Antikonversionsgesetze schränken die Religionsfreiheit stark ein. Die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ hat 2017 über 822 Übergriffe auf Christen und andere religiöse Minderheiten gezählt. 111 Menschen seien dabei getötet, 2384 verletzt worden.
Tarun Kumar Nayak war 2008 neun Jahre alt, als die Ausschreitungen begannen. Er hat das Morden gesehen, wurde mit seiner Familie vertrieben. Der 19-Jährige studiert heute Naturwissenschaften. Die Erinnerungen an damals prägen sein Leben bis heute. Sie beginnen für ihn schon vor den flächendeckenden Ausschreitungen, nämlich an Heiligabend 2007. Tarun hat uns seine Geschichte erzählt:
„In meinem Geburtsort Bamunigoan machen Christen und Hindus je die Hälfte der Bewohner aus. Wir lebten friedlich und harmonisch zusammen – bis zum 24. Dezember 2007. Wir Christen hatten die Hauptstraße weihnachtlich geschmückt, wie auch in den Vorjahren. Hindus hatten früher sogar dabei geholfen.
Diesmal war es anders: Eine Gruppe von etwa 200 Menschen kam zum Marktplatz. Sie forderten uns auf, den Weihnachtsschmuck zu entfernen. Außerdem sollten die Geschäfte der Christen sofort schließen. Als sich die Eigentümer weigerten, kam es zur Eskalation: Rund 20 Geschäfte von Christen wurden geplündert und zerstört. Dabei starb ein Mann.
Da wir fürchten mussten, dass die Extremisten auch uns angreifen, mussten wir noch am Heiligabend fliehen: meine Mutter, meine Geschwister und ich zusammen mit vielen weiteren Gemeindemitgliedern. Stundenlang rannten wir in absoluter Dunkelheit und großer Kälte. Es waren sogar neugeborene Babys in unserer Gruppe. Das Schlimmste war: Wir mussten unseren Vater zurücklassen. Er war Sprecher der Christen in unserem Dorf und hoffte darauf, mit den Angreifern verhandeln zu können. Er weigerte sich mitzukommen.
Schließlich erreichten wir nach zwei Tagen ein Dorf, indem wir Unterschlupf und Obdach erhielten. Ich habe erlebt, wie sehr der Satz in der Bibel stimmt: ,Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?῾ Über eine Woche blieben wir dort versteckt.
Von unserem Vater hörten wir nichts. Auch er hatte mittlerweile fliehen müssen. Mehr als 40 Kilometer war er durch den Wald gelaufen und fuhr dann mit einem Bus in die Stadt Berhampur zu Verwandten, weil er meinte, wir seien dort. Als die Lage in unserem Dorf sich wieder beruhigt hatte, kehrten wir nach Hause zurück. Jeden Tag weinten wir um meinen Vater. Denn wir dachten, die Extremisten hätten ihn getötet. Wir waren so glücklich, als er eine Woche später gesund zurückkam!
Nach den Übergriffen stellte unser Bürgermeister Sicherheitspersonal an, das zweimal am Tag durch den Ort patrouillierte, um uns ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Nach und nach öffneten die Christen auch wieder ihre Geschäfte, und ich ging wieder zur Schule. Doch allen war bewusst: Das war noch nicht das Ende der Gewalt.
So kam es dann auch knapp ein Dreivierteljahr später, am 24. August 2008. Ein bedeutender Hindu-Führer war zusammen mit vier Schülern ermordet worden. Obwohl sich gleich nach der Tat eine linksextremistische Guerilla zu den Morden bekannt hatte, schoben die nationalistischen Hindus die Tat den Christen in die Schuhe. Sie formierten sich, wurden über Nacht mit Waffen ausgestattet und begannen, die Christen anzugreifen.
Ein Haus nach dem anderen wurde geplündert und zerstört – auch unsere Kirche, für die sich mein Vater so viele Jahre eingesetzt hatte. Erneut mussten wir fliehen. Wir hatten alles verloren. Viele unserer Nachbarn waren ums Leben gekommen.
Dennoch hielten wir an unserem Glauben fest. Nur in der Gewissheit, dass Gott mit uns ist, waren wir in der Lage, dem Terror und der Gewalt standzuhalten. Aber letztlich mussten wir wieder bei null anfangen. Meinen Vater hat das schwer getroffen. Im vergangenen Jahr ist er gestorben.
Unser damaliger Erzbischof von Cuttack-Bhubaneswar setzte sich sehr dafür ein, dass die Christen für das erlittene Unrecht entschädigt werden. Er ging sogar bis zum Obersten Gerichtshof Indiens und bekam Recht.
Die Regierung, die sich bislang geweigert hatte, zahlte dann einige Hilfen für den Wiederaufbau – auch wenn diese sehr niedrig waren. In meinem Dorf ist die Lage nun seit einigen Jahren wieder weitgehend unter Kontrolle.
Bei kirchlichen Festen gibt es nun aber festes Sicherheitspersonal vor den Kirchen und in unseren Straßen. Die Erinnerung und die Angst sind noch immer allgegenwärtig.“
KIRCHE IN NOT steht der christlichen Minderheit in Indien solidarisch bei.
Seit den Überfällen 2008 hat unser Hilfswerk beim Wiederaufbau zahlreicher zerstörter Kirchen im Bundesstaat Odisha geholfen.
Zudem fördert KIRCHE IN NOT die Seelsorge und kirchliche Sozialarbeit unter den Dalits, die in der indischen Gesellschaft ohne Stimme und Beistand sind. Um weiterhin helfen zu können, bittet KIRCHE IN NOT um Spenden.
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