JORGE KARDINAL UROSA: Meiner Meinung nach ist das Vorziehen der Präsidentschaftswahlen auf den 20. Mai eine Ungerechtigkeit gegenüber den politischen Rechten der venezolanischen Bürger.
Wir haben das Recht, frei und unter angemessenen Bedingungen zu wählen. Die Wahlen müssen durchführbar und demokratisch sein. Außerdem müssen die Wahlen im letzten Vierteljahr des Jahres angesetzt werden, wie dies in der Verfassung vorgesehen ist.
Zurzeit scheint die Opposition nicht sehr aktiv zu sein. Es findet vor der Wahl keine wirkliche Mobilisierung statt. Venezuela scheint unter Schock zu stehen. Ist dies so?Im vergangenen Jahr starben 140 Personen bei der Niederschlagung von Protestmärschen. Manchmal hatten die Opfer jedoch noch nicht einmal mit den Protesten zu tun.
Es gibt ein Video, in dem eine Frau eine Straße entlanggeht, ohne an den Märschen teilzunehmen; als sie sich von der Menge entfernt, hört man plötzlich einen Schuss. Tödlich getroffen fällt sie hin. Dies hat mich erschüttert.
Wir stehen unter Schock. Man könnte denken, dass sich das Böse ungehindert ausbreite und es egal sei, ob nun Kinder sterben oder jemand sich ergibt und dennoch umgebracht wird. Angesichts von so viel Leid sind die Menschen mutlos.
Die Presseerklärung der Bischofskonferenz spricht auch von einer Unrechtmäßigkeit der Wahlen …Diese Wahlen werden das Problem des sozialen Notstands nicht lösen, und deshalb sind sie nicht rechtmäßig. Man müsste diese Wahlen verschieben, da sie wirklich weder legitim noch demokratisch sind.
Ist die Kirche die einzige Einrichtung in Venezuela, die ihre Stimme erhebt?Nein. Es gibt viele Gruppen, die nicht damit einverstanden sind und das Wort ergreifen, wie zum Beispiel politische Gruppen oder die Nationalversammlung. Erstere sind sehr zersplittert und geschwächt und werden bedroht. Bei der Kirche ist die Wirkung vielleicht größer, da das Vertrauen der venezolanischen Gesellschaft in die Bischöfe stark ist.
Manche Beobachter sind der Meinung, dass die Wahlen vorgezogen wurden, da die ökonomische Lage des Landes am Ende ist. Ist dies einer der Gründe?Das weiß ich nicht. Was ich hingegen weiß, ist, dass die venezolanische Realität erbärmlich ist: Der Mangel an Medikamenten und Infusionen ist groß, einschließlich der Gesundheitsfürsorge in den Krankenhäusern, der Mangel an Lebensmitteln und die hohen Preise dafür, das Transportproblem, der Mangel an Bargeld …
Ein Kilogramm Fleisch oder Milchpulver kostet den Mindestlohn. Wer kann sich dies leisten? Wie ist es möglich, dass es in einem Land kein Geld gibt? Das zerstört jedes Wirtschaftssystem. Seitens der Bischofskonferenz von Venezuela haben wir unsere Stimme erhoben, um diesen sozialen Notstand beziehungsweise die humanitäre Krise, die in unserem Land herrscht, anzuprangern.
Es fehlt an Strom und Wasser. Niemand hat sich darum gekümmert, die Strukturen und die Instandhaltung von Systemen aufrechtzuerhalten. Es ist schrecklich, dieses Land in Trümmern zu sehen.
Ja, es gibt diesen Exodus, weil es keine Zukunft gibt. Die Situation ist dramatisch. Momentan haben praktisch alle venezolanischen Familien einen Angehörigen, der im Ausland lebt.
Dieser Exodus betrifft auch die Kirche. Zum Beispiel hier in der Erzdiözese Caracas haben schon vier ständige Diakone das Land aus familiären Gründen verlassen. Es gibt auch viele Kongregationen, die ihre Ordensschwestern außer Landes bringen, da sie keine Mittel für ihre Ernährung oder medizinische Betreuung haben.
Was wäre nötig, um Venezuela aus dieser schlimmen Lage herauszuhelfen?Es ist schwierig, diese Situation zu ändern. Wie kann es eine Veränderung geben, wenn die Regierung praktisch die ganze Staatsgewalt innehat?
Es gibt zwar die Nationalversammlung, aber sie ist praktisch außer Kraft gesetzt, so wie man auch die politischen Parteien für nichtig erklärt hat.
Andererseits könnte man sagen, dass es eine „Hypothek“ von Venezuela im internationalen geopolitischen „Spiel“ gibt. Das Land hat die Zusammenarbeit mit einigen Ländern aufgegeben und ist strategische Allianzen mit anderen eingegangen, vor allem wenn es um Bergbau und Erdöl geht.
Im Süden von Venezuela gibt es Diamantenminen, Gold und Koltan. Im Übrigen ist die Rücksichtslosigkeit gegenüber der Umwelt und die unkontrollierte Ausbeutung ein anderes, besorgniserregendes Thema.
Das Land ist Teil des internationalen geopolitischen und ökonomischen Spiels. Dies macht es noch schwieriger. Aber wir dürfen nicht aufhören, für unser Land zu beten und eine friedliche Lösung zu ersehnen.
Unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende – schnell und einfach online!