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Interview mit dem Erzbischof von Calabozo über die prekäre Lage in Venezuela

Interview mit dem Erzbischof von Calabozo über die prekäre Lage in Venezuela

„Sie teilen das Wenige, das sie haben”

12.12.2018 aktuelles
„Wir lassen nicht nach mit unserem Einsatz”
Interview mit einem Erzbischof aus Venezuela über die prekäre Lage in seiner Heimat
Venezuela war einst dank des hohen Erdölexports das wohlhabendste Land Südamerikas. Heute durchleidet es eine Inflation bis zu einer Million Prozent, weite Bevölkerungsteile verelenden. Beobachter machen dafür den linksgerichteten Kurs verantwortlich, den das Land unter Präsident Hugo Chávez eingeschlagen hatte und den sein Nachfolger Nicolás Maduro fortsetzt.
Die Regierung dagegen verweist auf die verhängten Handelssanktionen aus dem Ausland und den aggressiven Kurs der USA. Die katholische Kirche Venezuelas ist nicht nur durch den Geldverfall in ihren pastoralen Möglichkeiten eingeschränkt, immer wieder kommt es auch zu staatlichen Restriktionen. Die Inflation steigt. Es fehlt an Strom und Wasser. Die Menschen können sich kaum noch Lebensmittel leisten. Wie die Kirche dennoch versucht, den notleidenden Menschen beizustehen und zur Einheit des Landes beizutragen, darüber berichtete Erzbischof Manuel Felipe Díaz Sánchez (63) bei einem Besuch bei KIRCHE IN NOT Deutschland.
Sánchez leitet seit 2008 das Erzbistum Calabozo, etwa 300 Kilometer südlich der Hauptstadt Caracas. Das Interview führte Tobias Lehner.
Menschen strömen über die Grenzbrücke von Venezuela nach Kolumbien.
Die Inflation steigt. Es fehlt an Strom und Wasser. Die Menschen können sich kaum noch Lebensmittel leisten.
„Es herrscht ein Mangel an allem”

TOBIAS LEHNER: Exzellenz, was bedeutet die Krise für die Menschen konkret?

Ein alltägliches Beispiel: Jemand geht in ein Geschäft und fragt, wie viel ein bestimmtes Lebensmittel kostet. Er holt das Geld und kommt nach einer Stunde wieder – in der Zwischenzeit ist der Preis gestiegen.
Es herrscht ein Mangel an allem. Viele Menschen ernähren sich nur noch von Reis und Bohnen. Besonders schlimm ist die Lage in den Krankenhäusern. Es fehlen Medikamente. Die Patienten müssen sie teilweise selber beschaffen und verkaufen dafür ihre letzten Wertgegenstände. Viele Menschen sehen die Auswanderung als einzige Lösung.

Es gibt immer wieder Meldungen, dass sich die Situation an der Grenze zu Kolumbien zuspitzt. Zeitweise musste der Grenzübergang geschlossen werden. Viele Menschen kommen nicht weiter, weil das Geld für die Ausreisepapiere fehlt. Was wissen Sie über die Situation dort?
Es ist vor allem die Kirche, die sich der Menschen annimmt. Das gilt auf der venezolanischen Seite, aber auch in Kolumbien, Ecuador, Peru und Chile, wohin die meisten Menschen auswandern.

„Sie teilen das Wenige, das sie haben”

Die Gemeinden an der Grenze versorgen die Menschen mit Lebensmitteln, bieten Übernachtungsmöglichkeiten oder medizinische Hilfe an. Sie teilen das Wenige, das sie haben. Wir sind sehr dankbar für diese Solidarität.

TL: Venezuela präsentiert sich als moderner sozialistischer Staat. Bringt das auch Schwierigkeiten für die Kirche mit sich?

Das politische System in Venezuela ist ein Flickenteppich aus verschiedenen Einflüssen: sozialistisch, konservativ, durchtränkt mit atheistischen und spiritistischen Vorstellungen und vielem mehr. Es gab immer wieder Versuche, die Bischöfe zu spalten, aber das ist nicht gelungen.
Gleichzeitig haben Chávez und der jetzige Präsident Nicolás Maduro alle Verträge anerkannt, die die Vorgängerregierungen mit der katholischen Kirche geschlossen hatten. Das betrifft vor allem die kirchlichen Schulen. Zehn Prozent der Schulen in Venezuela sind in kirchlicher Trägerschaft, darunter auch viele Berufsschulen. Davon hat der Staat natürlich auch etwas.

Viele Politiker zeigen sich bewusst sehr religiös. Gleichzeitig nehmen staatliche Vertreter zum Beispiel nicht mehr an Bischofsweihen teil. Es ist ein zwiespältiges Verhältnis.

TL: Wie steht es um das kirchliche Leben?

75 Prozent der Venezolaner sind Katholiken. Sie sind dem Glauben treu geblieben. Ich höre immer wieder: Die Kirche in Venezuela ist die Institution, die am meisten Glaubwürdigkeit hat.

Venezolanische Ordensfrauen verteilen belegte Brote an bedürftige Kinder.
Plakat des Präsidenten Nicolás Maduro.
Kinder und Jugendliche aus Carupano/Venezuela freuen sich über die Kinderbibel von Kirche in Not.
Bei einem Gottesdienst in Venezuela.
Kirche genießt hohe Glaubwürdigkeit

Die wirtschaftliche Misere beeinflusst natürlich auch das kirchliche Leben: Es ist zum Beispiel aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich, kirchliche Großveranstaltungen wie einen Jugendtag oder ein Familientreffen zu organisieren. Aber wo es keine Begegnung mehr gibt, gibt es auch keine kirchliche Gemeinschaft! Sehr schlimm ist auch die Situation der Priester: Viele vereinsamen, weil sie allein eine sehr große Pfarrei betreuen, oft in einer ländlichen Gegend. Sie haben nicht das Geld, um zu Treffen zu fahren oder das Lebensnotwendigste einzukaufen.
Es gab auch schon Fälle, bei denen Ordensleute das Land verlassen mussten, weil sie ihr Kloster und ihre Arbeit finanziell nicht mehr aufrechterhalten konnten.

TL: Kann die Kirche in Venezuela denn irgendetwas tun, um der Not der Menschen abzuhelfen?

Wir lassen nicht nach mit unserem Einsatz auf dem Gebiet Schule und Erziehung. Wir wollen den jungen Menschen die Möglichkeit eröffnen, dass sie eine bessere Zukunft bauen können. In einzelnen Pfarreien verteilen die Priester Medikamente, die sie aus dem Ausland bekommen.

„Solidarische Töpfe”

Eine sehr erfolgreiche Aktion sind die sogenannten „Solidarischen Töpfe“. Mit Lebensmittelspenden kochen Freiwillige in den Pfarreien für besonders arme Menschen. Diese sind sehr dankbar dafür, weil sie wissen, dass auch die kirchlichen Mittel gering sind.

TL: Was kann KIRCHE IN NOT tun, um Venezuela zu helfen?

Ich bin es nicht gewohnt zu betteln. Umso dankbarer bin ich, dass KIRCHE IN NOT uns Hilfe angeboten hat. Die Menschen brauchen Unterstützung, um Essen und Medikamente kaufen zu können.

„Mess-Stipendien sind lebensnotwendig”

Wir brauchen aber auch pastorale Unterstützung. Die Priester und Gläubigen brauchen Gelegenheiten, bei denen sie sich vernetzen und bestärken können. Es fehlen auch Bibeln und Materialien für die Katechese. Sehr wichtig ist die Versorgung der Priester. Mess-Stipendien sind für viele die einzige Einnahmequelle und lebensnotwendig.

TL: Im September waren alle venezolanischen Bischöfe bei Papst Franziskus. Wie reagiert der Papst auf die Schilderungen der Lage?

Der Papst hat wiederholt seine Solidarität mit den Menschen in Venezuela gezeigt. Er hat uns Bischöfe ermutigt, geeint für das Land einzustehen. Vertreter der Kurie, zum Beispiel der Kardinalstaatssekretär, haben sogar von einer „bedrängten Kirche“ in Venezuela gesprochen und Hilfe angeboten.
Das hat uns sehr bewegt und ermutigt. Ohne die Solidarität der Christen weltweit können wir nicht überleben!

Manuel Felipe Díaz Sánchez, Erzbischof von Calabozo (Venezuela).

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